Leben in Dömitz von Renate und Reinhard Krökel-Freitag

 Bei unserem ersten Besuch 1998 hat uns der kleine Ort nicht sofort verzaubert, aber neugierig gemacht.  Ein Freund aus Hamburg hatte uns von Dömitz vorgeschwärmt und uns kurzerhand mit zu einem Tagesausflug zu seinen Freunden eingeladen. Es war ein Nachmittag im Februar, also noch im Winter,  wabernder Nebel in den Elbwiesen, nasskalt, die etwas spärliche Straßenbeleuchtung sprang an. Mit den Freunden spazierten wir am Wall entlang. Irgendwo dort kam uns die fixe Idee: Wenn hier mal ein Haus zu verkaufen ist, sagt doch mal Bescheid. Kaffee und Kuchen waren lecker und irgendwann gings zurück nach Hamburg. Keinen Monat später bekamen wir einen Anruf,  wir können uns ein Haus ansehen. Gesagt getan, vier Wochen mit ein paar schlaflosen Nächten überlegt, doch dieses Haus hatte unsere Phantasie schon im Griff und plötzlich waren wir Hausbesitzer und somit “Hobby/ Wochenend Dömitzer”. Es gab damals wie heute viel zu tun an dem “ollen Katen”, wie ihn einige Nachbarn nannten, und wir wurden  herzlich aufgenommen. Sobald wir auf der Leiter vor unserem Haus standen um zu streichen oder irgendwo auszubessern, hielt ein Wagen oder jemand stieg vom Rad und wir kamen ins Gespräch. Die Arbeit musste warten, aber wir erfuhren viel über den Ort und den alten Lehrer, der in diesem Haus gelebt und offenbar halb Dömitz unterrichtet hatte. Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft wurden uns vom ersten Tag an entgegengebracht. Die Jahre gingen dahin, unsere Kinder wurden erwachsen und verloren die Lust am Landleben, in Hamburg war eben was los. Wir pendelten also fortan allein, arbeiteten, renovierten, schlossen Freundschaften und begannen die Natur und die Ruhe von Jahr zu Jahr mehr zu schätzen. Plötzlich waren wir Mitglieder bei LuK und  die  Bindung an Dömitz wurde noch intensiver. Und dann kam der Moment, an dem wir sagten: Tschüss, Hamburg!  Und wir zogen in unsere ” Lebensbaustelle”.  Ein Schritt, den wir bis heute nicht bereuten. Vor ein paar Jahren nahmen wir unsere Mutter bei uns auf, um sie an ihrem  Lebensabend zu unterstützen.  Ein neuer Abschnitt begann. Es war eine schöne und manchmal anstrengende Zeit. Wir sind glücklich, mit ihr diese Zeit in der herrlichen Natur und den Wechsel der Jahreszeiten zu erlebt zu haben. Viel haben wir über ihr Leben erfahren, was nur durch unser Zusammenleben und viele gemeinsame Stunden unter unserem herrlichen Wallnussbaum möglich war. Der Tag des Abschieds kam und wir fanden für sie einen wunderbaren Platz im Gartower Ruheforst. Gerade in dieser Zeit der Pandemie war es für alle ein Glück, dass sie ihre letzte Zeit häufig im Kreise ihrer Enkel und Urenkel bei uns verbringen konnte. So wurde für uns aus Leben in Dömitz, Leben und Sterben in Dömitz. Aber nun haben auch unsere Kinder ihre Lust am Landleben wiederentdeckt und unsere Enkelkinder halten uns auf Trab  – was kann schöner sein?

Renate und Reinhard Krökel-Freitag 

Das Wunder von 1989 – Familie Baumert

Das “Wunder” von 1989

An vielen Stellen der ehemaligen Staatsgrenze weisen Schilder darauf hin, wie lange hier Europa und Deutschland geteilt waren. Als wir 1985 nach Dömitz kamen, überraschte uns die unmittelbare Nähe zum doppelten Grenzzaun; von der Hofausfahrt des Pfarrhauses bis zum ersten Grenzzaun waren es etwa 20 Meter. Bis dahin unvorstellbar, dass man so dicht an den Grenzzaun ziehen konnte. Mehr beunruhigt als für uns waren wir für unsere drei Kinder. Mussten wir doch davon ausgehen, dass sie hier ihre Kindheit und Jugend erleben werden. Hatte Tobias, damals 7 Jahre alt, beim ersten Wahrnehmen der Grenzanlagen zunächst Mitleid mit den Menschen auf der anderen Seite des Zaunes: “Die armen Menschen dort sind alle eingesperrt”, so wurde ihm beim Anblick der Grenzhunde schnell klar, dass wir hier eingesperrt sind. Niemand hatte zu diesem Zeitpunkt geahnt, dass bereits vier Jahre später die Mauer, wie die gesamte innerdeutsche Grenze genannt wurde, fallen würde. Und das nach einer erneuten Fluchtwelle über Ungarn und die Tschechei und einer unblutigen Revolution in der damaligen DDR. Vom “Fall der Mauer” hat meine Frau in einem Telefonat von meinem Bruder aus Oregon erfahren. Voller Zweifel, denn schließlich lebten wir hier direkt an der “Mauer”! Das Fernsehen aber überzeugte dann sehr schnell, und ein unbeschreibliches Gefühl der Befreiung erfüllte uns von diesem Augenblick an. 

Bereits im Oktober hatten wir auch hier in Dömitz zu einem Friedensgebet in die Johanniskirche eingeladen, die die vielen Menschen kaum fassen konnte. Beobachtet von Kräften der Staatssicherheit, die sich im gegenüberliegenden Kaufhaus verschanzt hatten, entließen wir die Menschen mit der Bitte um Ruhe und Besonnenheit, nachdem sie ihre Kerzen an der Kirche abgestellt hatten. Aus diesem Friedensgebet sammelte sich dann wöchentlich eine Gruppe von Menschen, die den Grundstock für die spätere Bürgerinitiative und heutige Unabhängige Wählergemeinschaft bildete. Als für den 1. Adventssonntag die neuen Kräfte in der DDR zu einem großen Lichterkreuz aufgerufen hatten, war unserer Gruppe klar, dass wir von dieser Möglichkeit viel zu weit entfernt lebten. So vereinbarten wir, an diesem Sonntag eine Lichterkette entlang des inzwischen ehemaligen Grenzzaunes mit Blick durch den Zaun auf das niedersächsische Ufer zu bilden. In der Nacht nach dieser Vereinbarung war es wie eine Eingebung, dass ich dann am nächsten Morgen zum evangelischen Pfarrer ging und ihm vorschlug, mit der neuen Fähre überzusetzen. Wir wollten die evangelische Propstei von unserem Vorhaben informieren. Die Hoffnung war, dass auch Menschen aus Dannenberg motiviert werden konnten, ebenfalls am 1. Advent an das Elbufer zu kommen, um ein Licht für den Frieden in der Hand zu halten. 

So kam der 1. Advent, für den wir die Dömitzer eingeladen hatten, sich um 17.00 Uhr auf dem Festungshof zu versammeln. Von dort wollten wir dann nach einer kurzen Besinnung am Zaun entlang, mit einer Lichterkette unsere Botschaft über die Elbe senden. Große Unsicherheit erfüllte uns, weil an diesem Tag ein dichter Nebel einfach nicht weichen wollte. Aber wie durch ein Wunder wurde es zur rechten Zeit klar und wir konnten, zwar im Dunkeln aber dennoch bei klarer Sicht durch den Zaun unser Vorhaben beginnen. Von unserem vorausgegangenen Besuch hatten wir niemandem etwas verraten. Bei fröhlichem Erzählen gingen wir mit einer Gruppe von etwa 450 Personen am Zaun entlang in Richtung Stadt und gaben das Licht weiter. Doch auf einmal wurde es immer stiller und ein großes Staunen wich dem Erzählen, denn plötzlich sahen wir auf dem anderen Elbufer ein Lichtermeer, das von einer großen Gruppe Dannenberger ausging. Im Dunkeln sahen wir jeweils nur die Lichter auf der anderen Seite, und ein stiller Jubel war die Antwort auf diese Lichterbotschaft. Plötzlich aber begannen unsere Kinder laut Hallo zu rufen, ohne dass dieser Ruf auf der anderen Seite zu hören gewesen wäre. Da zählte einer aus unserer Gruppe laut bis drei, um uns alle zu einem lauten Hallo zu animieren. Nach diesem Ruf war es still, als hätten die Menschen auf der anderen Seite es nicht gehört. Aber die Dauer des Schalls abwartend, erreichte uns aus dem Dunkel ebenfalls ein lauter Ruf als Antwort. Das wiederholten wir dann dreimal. Und dieser Augenblick war für uns sicher der Moment in der ganzen Wendezeit, der uns am meisten im Inneren berührt hat.